Spuren der Vergangenheit

Fresia Barrientos

Broschur, 128 Seiten
ISBN 978-3-933109-42-6
12,80 €

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Erscheinungstermin: Juli 2018

Leseprobe

1974: Eine besondere Hochzeitseinladung

Anfang 1974 erhielten wir eine sehr besondere Einladung. Einer unserer Freunde würde bald heiraten. Auf der Einladungskarte stand nur, wann wir in Berlin sein müssen, um vor dem Roten Rathaus auf einen Bus zu warten. Wir wurden um strikte Vertraulichkeit gebeten. Wir kannten das Brautpaar, aber die rätselhaften Anweisungen überraschten uns.

Sofort entstand für mich die Frage, die sich wahrscheinlich viele Frauen auf der Welt bei einer solchen Einladung stellen: Was soll ich anziehen? Würden meine Ankleidevorstellungen den Vorschriften entsprechen? Lang oder kurz? Soll ich ein Festkleid tragen, wie ich es an den Frauen in der Leipziger Oper gesehen hatte? In der Einladung stand nichts darüber. Und meine Kinderkleidung kam überhaupt nicht in Frage. In den nächsten Tagen besuchte ich das Centrum-Warenhaus und probierte unzählige Kleider und Kostüme an.

Es war alles umsonst, entweder waren sie mir zu groß bzw. zu weit und zu lang oder mir passten die Farbe, das Modell oder die Muster nicht. Der Hochzeitstermin kam näher und ich hatte noch immer keine Lösung. Sollte ich lieber Stoff kaufen und mir ein Festkleid nähen? Das wäre kaum zu schaffen gewesen! In einer verzweifelten Selbstrettungsaktion ging ich am letzten Tag vor der Reise nach Berlin in den Intershop auf der Prager Straße und kaufte mir mit den letzten aus Chile stammenden Devisen ein langes elegantes Festkleid. Es gefiel mir zwar nicht, aber es löste zumindest das dringendste Problem.

Am nächsten Tag fuhren wir mit dem Zug nach Berlin. Einige chilenische Freunde waren auch dabei, darunter eine Frau. Die Eltern meiner Freundin Judith wohnten am Alexanderplatz, wir waren eingeladen, bei ihnen zu übernachten. Dort zogen wir unsere Festkleider an und glaubten, wir wären für das große Ereignis richtig gekleidet. Doch als wir aus dem Zimmer traten, schauten uns die deutschen Freunde merkwürdig an. Ich glaubte, bei ihnen ein verborgenes Lächeln zu bemerken. Aber sie sagten kein Wort. Der Abend war kalt und regnerisch. Wir Frauen trugen leichte Absatzschuhe und waren festlich gekleidet. So gingen wir durch den Regen über den Alexanderplatz. Auf der anderen Seite, am Rathaus, würde uns der Bus abholen.

Pünktlich um 17 Uhr erschien das Fahrzeug, wir stiegen ein und fragten nicht, wohin die Reise gehen würde. Wir fuhren durch dunkle Wälder und enge Wege etwa eine Stunde; wir waren insgesamt etwa zwanzig Leute, Chilenen und deutsche Männer, die strenges Schwarz trugen. Etwa um 18.30 Uhr hielt der Bus vor einem großen, aber einfachen Haus. An der Tür standen vier Leute: Der Bräutigam (unser Landsmann), die Braut und ihre Eltern: Margot und Erich …